Die Gesellschaft für Energie und Klimaschutz Schleswig-Holstein (EKSH) hat 2022 mit Partnern aus Verbänden, Forschung, Landwirtschaft und Politik zwei Zukunftsszenarien zum Thema „Landwirtschaften 2042“ entworfen. Ziele sind u.a., mögliche Trends frühzeitig aufzuspüren und Impulse für den notwendigen und tiefgreifenden Wandel zu geben. Die Szenarien wurden mit der sogennanten Foresight-Methode vor dem Hintergrund der deutschen Klimaziele für 2045 erarbeitet.
Szenario 1: Traditionelle Tierhaltung verliert vollständig an Bedeutung
Die erste Zukunftsvision geht davon aus, dass technologische Durchbrüche, insbesondere im Bereich der technischen Erzeugung von Fleisch und Milchprodukten nicht nur zu einem Strukturwandel führen, sondern auch zu einer Erweiterung der Akteurslandschaft in der Agrarwirtschaft. Die Traditionelle Tierhaltung verliert vollständig an Bedeutung, viele traditionelle Betriebe stellen bei der Produktion auf den Anbau pflanzlicher Lebensmittel um und diversifizieren ihre Geschäftsmodelle in Richtung eines Multi-Unternehmertums.
In-vitro-Fleisch günstiger als konventionelles Fleisch
Massive Kostensenkungen dank leistungsfähigerer Bioreaktoren, höhere Stückzahlen, pflanzenbasierte Nährstoffmedien sowie Automatisierung bringen erlauben es, In-vitro-Fleisch preisgünstiger als konventionelles Fleisch anzubieten. Gleiches gilt für Fisch. Gleichzeitig gibt es auch große Fortschritte im Bereich der Precision Fermentation. Dies macht künstliche Milchprodukte preislich konkurrenzfähig und setzt die klassische Tierhaltung massiv unter Druck. Fleisch, Fisch sowie Produkte wie Käse und Milch (Clean Milk) werden im Bioreaktor hergestellt und verdrängen sukzessive die traditionelle Tierhaltung vom Markt. Es drängen vermehrt regionale AgriTech- und Clean-Food-Start-ups auf den Markt und tragen die Lebensmittelproduktion durch vertikale Farmen und mikrobielle Laboratorien in die Städte. Durch entsprechendes Marketing werden die Bedenken gegenüber dem sogenannten „Clean Food“ bei den Verbraucher:innen abgebaut.
Weiter nötig: Anbau von Kartoffeln, Getreide-, Obst- und Gemüse
Während in den Städten die Bioreaktoren und vertikalen Farmen für artifizielle Fleisch-, Milch- und Käseproduktion sowie bestimmte Gemüse und Salate sorgen, werden auf dem Land Grundnahrungsmittel produziert, wie Getreide oder Kartoffeln, die in den Bioreaktoren und vertikalen Farmen nicht angebaut werden können. Dabei setzt sich das sogenannte Precision Farming durch, das durch Automatisierungs- und Präzisionstechnologien wie prädiktive Algorithmen zur Bedarfsbestimmung, eine an den Pflanzenbedarf angepasste Dosierung von Düngemitteln ermöglicht. Die traditionelle Landwirtschaft wird zwar nicht verdrängt, ist jedoch einem starken Wandel unterzogen. Der Trend geht zu biologisch erzeugten Nahrungsmitteln. Lokale Förder- und Clusterinitiativen sowie privatwirtschaftliche Dynamiken sorgen für eine Vielzahl neuer landwirtschaftlicher Angebote und Geschäftsmodelle.
Landwirtschaft muss neue Geschäftsmodelle erschließen
Die landwirtschaftlichen Betriebe diversifizieren angesichts der veränderten Marktsituation und der neuen Konkurrenz ihr Angebot. Sie werden zu Multi-Unternehmern, d.h. neben der klassischen landwirtschaftlichen Tätigkeit bieten viele Betriebe landwirtschaftliche Schulungen für urbane Zielgruppen, touristische Aktivitäten und Erlebnisgastronomie an. Manche Betriebe betreiben Emissionshandel, der sich dank gestiegener Zertifikats-Preise als eine lukrative Verdienstmöglichkeit entpuppt hat. Lohnend ist auch das Betreiben eigener großer PV-Flächen, Windkraftanlagen oder Biogasproduktion. Effizient und klimaschonend sind Mischnutzungsformen wie Agroforsten oder die Kombination von Ackerbau mit beweglicher, modularer Agri-PV, Einige Betriebe gehen sogar so weit, die Vertikalität einerseits durch unterirdische CO2-Sequestrierung zu verlängern, andererseits aber auch durch Einbindung von CO2 in Form von Humus. Andere Betriebe pflanzen Paludikulturen auf wiedervernässten Mooren an oder Wildpflanzen für Biogasproduktion.
Szenario 2: Grüne Gesellschaft: Landwirtschaft und Gesellschaft Hand in Hand
Das zweite Szenario geht davon aus, dass die häufigeren Extremwetterereignisse die EU-Bürger:innen für die Folgen des Klimawandels sensibilisieren. Klimaschutz und ökologische Fragen werden aufgrund des öffentlichen Drucks und der Krisensituation über Partei- und Ländergrenzen hinweg zu den wichtigsten politischen Themen. Die Flächennutzung und damit insbesondere die Landwirtschaft ist ein zentraler Steuerungshebel für die Politik. 2030 werden deshalb bestehende europäische Förderstrukturen grundlegend umstrukturiert. Die GAP wird abgeschafft. An ihre Stelle tritt als wichtigstes europäisches Förderinstrument ein neu gegründeter EU-Klima- und Transformationsfonds. Klima- und Gemeinwohlleistungen werden zum alleinigen Maßstab für öffentliche Förderung.
Klima- und Gemeinwohlleistungen statt Produktion
Die Veränderungen bewirken, dass viele Landwirt:innen ihr Geschäftskonzept neu konzipieren müssen. Gleichzeitig bleiben aber auch viele kleine und mittlere Betriebe (teils im Nebenerwerb) – neben hocheffizienten Großbetrieben – bestehen und erfüllen die von Verbraucherseite deutlich gestiegene Nachfrage nach regionaler, reichhaltiger und hochwertiger Versorgung. Kund:innen beziehen vorrangig biologisch erzeugtes Obst, Gemüse sowie in geringerem Maße tierische Produkte über Abonnements direkt von den Erzeugern.
Nachfrage nach pflanzlichen Proteinen steigt
Die Anzahl der Vegetarier und Veganer nimmt deutlich zu. 85% aller in Deutschland Lebenden bezeichnen sich als Flexitarier oder haben einen solchen Lebensstil. Der Konsum von Fleisch- und Milchprodukten geht deutlich zurück, nicht zuletzt wegen der staatliche Lenkungsmaßnahmen wie etwa Anhebung des MWSt-Satzes für tierische Produkte. Die Nachfrage nach pflanzlichen Proteinen steigt in der Folge deutlich und wird deutlich besser bezahlt. Dies eröffnet neue Märkte und ermöglicht den Anbau neuer Früchte und Fruchtfolgen.
Tierbestände gehen in beiden Szenarien zurück
Gleichzeitig sinkt die Nachfrage nach tierischen Erzeugnissen und macht intensive Tierhaltung weniger lukrativ. Die Tierbestände gehen in vielen Regionen Europas zurück. In der verbleibenden Tierhaltung werden Nebenprodukte der pflanzlichen Erzeugung optimal verwertet. In beiden Szenarien kommt es zu einem Rückgang des Tierbestands, wobei Szenario 1 keinen deutlichen Anstieg einer vegetarischen oder veganen Lebensweise annimmt, sondern neue technische Verfahren als Treiberlogik aufgreift.
Umnutzung der Tierhaltung-Flächen für Klimaschutzmaßnahmen
Die landwirtschaftlichen Betriebe müssen auch in diesem Szenario ihr Angebot diversifizieren. Durch die neuen Klima-Förderstrukturen spezialisieren sich manche vollständig auf Gemeinwohlleistungen wie die Wiedervernässung von Mooren oder wandeln ehemalige Tierzuchtflächen in PV-Flächen zur Energieerzeugung um, um den großen Bedarf an erneuerbarer Energie zu decken.
Beiden Szenarien ist gemeinsam, dass die traditionelle Tierhaltung abgelöst wird und Landwirt:innen sich für neue Geschäftsmodelle öffnen müssen. Neben dem Anbau von Grundnahrungsmitteln werden sie zu Unternehmern, die ausschließliche oder zusätzliche Einnahmen durch das Betreiben von Photovoltaik, Windkraftanlagen oder Biogasproduktion generieren. Neue Einkommensquellen könnten auch durch den Emissionshandel, das Erbringen von Gemeinwohlleistungen, wie die Wiedervernässung von Mooren, sowie durch touristische Aktivitäten und Erlebnisgastronomie entstehen. Die sich heute bereits abzeichnenden Trends, wie pflanzliches oder Fleisch aus dem Labor, sollten nicht als Bedrohung gesehen werden, sondern als Chance. Denn die sich verändernden Märkte bieten viele neue Möglichkeiten und Einnahmequellen.
Mehr zur den Zukunftsszenarien „Landwirtschaft 2042“ unter: www.eksh.org